Die Gewalt an Schulen in Nordrhein-Westfalen nimmt weiter zu – und die Landesregierung zieht daraus Konsequenzen. Wie die „Welt“ berichtet, hat das Bildungsministerium einen neuen Leitfaden veröffentlicht, der Lehrer im Ernstfall sogar zur Flucht auffordert. Auf 15 Seiten beschreibt das Papier, wie sich Lehrkräfte verhalten sollen, wenn sie von Schülern oder Eltern verbal oder körperlich angegriffen werden.
Gleich zu Beginn macht der Leitfaden klar: Gewalt hat keinen Platz an Schulen – doch das Ideal weicht zunehmend der Realität. „Schulen sind aber auch ein Spiegel der Gesellschaft und so erleben wir leider seit Jahren zunehmende Gewalterfahrungen von Lehrkräften und allen übrigen an Schule Beschäftigten“, heißt es in dem Dokument. Die Bandbreite der Übergriffe reiche von Beleidigungen über körperliche und psychische Gewalt bis hin zu sexueller Belästigung. Auch Cybermobbing sei inzwischen ein fester Bestandteil des Schulalltags.
Schulen in NRW: 43 Prozent der Schulleiter berichten von tätlichen Übergriffen
Eine im Januar veröffentlichte Erhebung des Verbands Bildung und Erziehung zeigt das ganze Ausmaß:
- 65 Prozent der befragten Schulleiter gaben an, dass an ihren Schulen in den letzten fünf Jahren Lehrer beleidigt, bedroht oder belästigt wurden.
- An 35 Prozent der Schulen kam es zu körperlichen Angriffen.
- Besonders dramatisch sei die Lage in NRW: Dort berichten 73 Prozent der Schulleiter von psychischer Gewalt, 43 Prozent sogar von tätlichen Übergriffen.
- Haupt-, Real- und Gesamtschulen sind laut „Welt“ besonders betroffen.
Leitfaden für Lehrer: „Entfernen Sie sich aus der Gefahrenzone“
In einer Schritt-für-Schritt-Anleitung gibt das Ministerium nun konkrete Handlungsempfehlungen für Lehrkräfte im Ernstfall. Eine zentrale Maßnahme: der Rückzug. Wörtlich heißt es im Leitfaden: „Entfernen Sie sich aus der Gefahrenzone. Verlassen Sie das Gesichtsfeld des Angreifers, provozieren Sie nicht und vermeiden Sie jede Eskalation.“
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Zuvor solle man energisch und mit klarer Körpersprache auf den Übergriff reagieren – etwa mit einem „Halt – Stopp“-Ruf – und um Hilfe bitten.
Doch nicht nur physische Selbstsicherung steht im Fokus. Auch rechtlich schlägt das Papier eine eher zurückhaltende Linie vor. Bei einfacher Körperverletzung, Sachbeschädigung oder Beleidigung sollen Lehrer abwägen, ob sie wirklich Anzeige erstatten – oder stattdessen „zugunsten erzieherischer Maßnahmen“ auf ihr Recht verzichten.
Lehrer müssen selbst entscheiden, wie weit sie gehen wollen
Die „Welt“ zitiert hierzu: „Dem Interesse der betroffenen Person wird dadurch Rechnung getragen, dass sie die Möglichkeit erhält, den staatlichen Strafanspruch im Wege der Privatklage durchzusetzen.“ In anderen Worten: Der Staat zieht sich zurück, Lehrer müssen selbst entscheiden, wie weit sie gehen wollen.
Ein zentraler Grundsatz des Leitfadens ist die „Verhältnismäßigkeit“. Jede Reaktion auf Gewalt müsse sich am Ziel der Erziehung orientieren. Dazu zählt auch, dass das Alter, die psychische Verfassung und die Einsichtsfähigkeit des Schülers berücksichtigt werden sollen. Ein Schulverweis wird nur in besonders schweren Fällen als sofort gerechtfertigt betrachtet – etwa bei Angriffen mit Waffen oder gemeinschaftlichen Übergriffen.